Der «arme, weisse Mann», dargestelt von grossen Sängern
Kritische Anmerkungen zur Interpretation der «Schönen Müllerin»
Wer zum ersten Mal Aufzeichnungen berühmter Schauspieler vom Anfang des letzten Jahrhunderts hört, wird erstaunt sein, wie musiknahe der deklamatorische Vortragsstil in seiner Neigung zu melodischen Kurven und vibrierendem Pathos war. Während sich im Theater unter dem Einfluss des Tonfilms in den folgenden Jahrzehnten eine vergleichsweise nüchterne Darstellungsweise durchsetzte, so ist die Interpretation des klassisch-romantischen Lieds von solcher Prosaisierung weitgehend unberührt geblieben. Unter Schubertiadengängern und anderen Freunden des Liedes gilt bis heute als höchste emotionale Offenbarung, was außerhalb dieser Zirkel, die inzwischen selbst vom klassischen Musikbetrieb so marginalisiert worden sind wie das herkömmliche Operettenwesen von den Opernhäusern, bloß noch auf Unverständnis stoßen oder sogar schallendes Lachen provozieren würde. Das Betroffenheitspathos, das Konzertsänger so gerne verbreiten, suggeriert eine Unmittelbarkeit, die nur in der Kunstwelt von Liederabenden als stimmig empfunden werden kann. Der wandernde Handwerksgeselle, der um die Tochter des Meisters buhlt, ist von heutiger Realität so weit entfernt, dass eine »einfühlende« Darstellung dieser Figur der großen Schubert-Zyklen auf ein unvorbereitetes Publikum bloß noch grotesk wirkt.
Für Wilhelm Müller, den Dichter der Schönen Müllerin und der Winterreise, hatte jedoch dieses Sujet einen durchaus realen Hintergrund: Die wandernden Handwerksgesellen waren die am stärksten ausgebeutete gesellschaftliche Schicht jener Zeit. Da das Handwerk von den Zünften völlig monopolisiert wurde, hatte ein Geselle nur dann Chance, Meister zu werden und damit der Verelendung zu entgehen, wenn er die Tochter eines Meisters heiratete. Müllers Zyklen sind jedoch keine sozialkritischen Epen, sondern destillieren aus dem Scheitern des Gesellen jenen Weltschmerz, der damals en vogue war und zur Friedhofsruhe der Metternichschen Restauration bestens passte. Freilich sind die Müllerschen Zyklen auch keine Erlebnisdichtung – dazu hatte der Autor, der sich damals in einer vergleichsweise komfortablen persönlichen Situation befand, keinen Anlass. Vielmehr konterkariert Müller den Weltschmerz mit Ironie und rückt ihn durch die geschlossene, vom Volkslied abgeleitete Form der Gedichte zusätzlich in Distanz. Heinrich Heine schrieb ihm in einem Brief von 1826, erst in seinen Sieben und siebzig Gedichten aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten (zu denen sowohl Die schöne Müllerin wie Die Winterreise gehören), »den reinen Klang und die wahre Einfachheit, wonach ich immer strebte, gefunden zu haben«.
Mit Müllers Ironie konnte oder wollte Schubert nichts anfangen. Der Epilog der Schönen Müllerin, in dem »Des Baches Wiegenlied« als »Leichenred' im nassen Ton« und »hohler Wasserorgelschall« aufs Korn genommen wird, blieb in seiner Vertonung ebenso unberücksichtigt wie des Dichters Prolog, in dem dieser sein Werk als »funkelnagelneues Spiel im allerfunkelnagelneuesten Stil« ankündigt. Was Heine an Müller so rühmte, nämlich »wie man aus den alten vorhandenen Volksliedformen neue Formen bilden kann, die ebenfalls volkstümlich sind, ohne dass man nötig hat, die alten Sprachholprigkeiten und Unbeholfenheiten nachzuahmen«, gilt indessen für Schuberts Vertonung in analoger Weise – gerade für die der Schönen Müllerin, wo allein schon die zahlreichen strophischen Formen eine psychologisierende, individualisierende Umsetzung des Textes ausschließen. Wie im Volkslied trägt hier die Musik die Worte, ohne diese im Einzelnen auszudeuten.
Unsere Konzertsänger scheinen indessen diese Distanziertheit nicht als Qualität aufzufassen, die den Zuhörenden Raum für ihre eigenen Assoziationen oder Einstellungen gibt, sondern vielmehr als Defizit, das vom Vortragenden zu beheben ist. Sie orientieren sich am wortexegetischen Komponieren eines Hugo Wolf und übertragen diese Ästhetik auf die Liedkunst einer früheren Zeit. Paradigmatisch dafür sind die Schubert-Interpretationen von Dietrich Fischer-Dieskau: Er hat wie kein anderer Sänger den Kunstgesang der letzten fünfzig Jahre geprägt und gilt weitherum als Inbegriff moderner, intelligenter Liedinterpretation. Wenn hier zu seiner Interpretation der Schönen Müllerin einige kritische Anmerkungen formuliert werden, soll damit keineswegs seine Bedeutung in Frage gestellt werden. Gerade weil Fischer-Dieskau stilbildend gewirkt hat, liegt es nahe, den oben skizzierten, weit verbreiteten Interpretationsansatz an seinen Aufnahmen aufzuzeigen und zu hinterfragen.
Um mit einem einfachen Beispiel zu beginnen: In der 4. Strophe von Des Baches Wiegenlied heißt es: »Hinweg, hinweg von dem Mühlensteig, hinweg, hinweg, böses Mägdelein, dass ihn dein Schatten nicht weckt«. Der dies sagt, ist aber weder der enttäuschte Liebhaber noch sonst ein menschliches Wesen, sondern – seltsam genug – der Bach. Was macht Fischer-Dieskau an dieser Stelle? Er bricht die Wiegenlied-Atmosphäre und schlägt einen beinahe militanten Tonfall an; der Pianist (Gerald Moore) unterstützt diese Deutung mit Staccato-Achteln, die einen Marsch anklingen lassen. Aus der Merkwürdigkeit eines sprechenden Baches wird so die Trivialität eines kommandierenden Menschen.
Dass die Psychologisierung fragwürdig ist, wenn das sprechende »Subjekt« etwas derart Unpersönliches ist wie ein fließendes Wasser, liegt auf der Hand. Aber auch dort, wo der Müllergeselle selbst spricht, neigt die psychologisierende Textumsetzung zur Trivialisierung, etwa wenn die Worte »Hat sie dich geschickt? Oder hast mich berückt?« (Danksagung an den Bach) in schmachtendem Tonfall vorgetragen werden; oder wenn der hohe Ton auf das Wort »Ja«, welches »Der Neugierige« vom Bächlein seiner Liebe hören möchte, derart von unten angesungen wird, dass es an das Buhlen eines Katers erinnert. »O Wandern meine Lust« (in Nr. 1) kommt mit der vollen Lust eines begeisterten Freizeitwanderers daher. Dass das Wandern für den Gesellen letztlich keine Lust, sondern pure Notwendigkeit (als Folge der Abweisung durch die Müllerstochter) ist, hat in einer solch eindimensionalen Darstellung keinen Platz; und die Ironie, die in den Worten »Herr Meister und Frau Meisterin, lasst mich in Frieden weiter ziehn und wandern« steckt, bleibt auf der Strecke. Wenn der Sinn für Doppelbödigkeiten fehlt, klingt das »bange Treiben« eben bang, »der Duft« duftig, »munter der Bach« munter, »schalle« schallend usw. Auch Dinge, die der Geselle beschreibt, aber mit seiner Empfindung nichts zu tun haben, werden versinnlicht; Einfühlung ins Subjekt wird zur Einfühlung schlechthin, das Lied tendiert zum Hörspiel – unter wohlmeinender Mithilfe des Pianisten, der zu den Worten »Es kommt ein Regen« (Tränenregen) die Tropfen in Form abgesetzter Achtel beisteuert oder im einleitenden, strophischen Wanderlied die an sich immer gleiche Begleitung fließend oder schwerfällig gestaltet, je nachdem ob von Wasser oder von Steinen die Rede ist. Solches Reagieren auf Stichworte mag bei der ad hoc-Begleitung eines Stummfilms das richtige Rezept sein; hier ist es bloß trivial oder sogar widersinnig: Wo der Dichter auf das Paradox des schnellen schweren Steins hinauswill, fällt dem Pianisten nur die Schwerfälligkeit von dumpfen Bässen ein.
Diese lautmalerische Darstellung der Steine hat übrigens Schule gemacht und findet sich von Gerald Moore bis Andreas Staier in beinahe allen mir bekannten Aufnahmen. Es ist immer wieder erstaunlich, welchen common sense Interpreten entwickeln, auch und gerade wenn es in der Partitur dafür keine Anhaltspunkte gibt oder dieser sogar widerspricht. Das gilt auch für die Tempogestaltung in der Schönen Müllerin, die meistens weit stärker zu den Extremen tendiert als es Schuberts Bezeichnungen signalisieren. Die häufigste Tempobezeichnung ist »mäßig«, und nur bei drei Liedern ist die Anweisung »langsam« bzw. »geschwind« nicht durch ein einschränkendes »ziemlich«, »nicht zu« oder »etwas« abgeschwächt.
So sehr dieser Liederzyklus von extremen Befindlichkeiten menschlichen Daseins, von Überschwang und Selbstauflösung handelt, so sehr ist er gebunden in einem volksliedartigen Stil, und die Musik ist bis auf wenige Ausnahmen (etwa Die böse Farbe) nicht ein Protokoll von Seelenzuständen und äußeren Vorgängen. Das von Schuberts Bezeichnungen angedeutete, zur Mitte tendierende Tempo trägt diesem episch-erzählenden Charakter Rechnung. Eine zwischen der Tiefsinnigkeit zerdehnter und der Hektik überzogener Tempi changierende Interpretation der Schönen Müllerin mag das Betroffenheitspathos, auf das es die meisten Sänger abgesehen haben, verstärken. Dem Verständnis dieses doppelbödigen Werks gibt eine so naive, unprätentiöse, »bloß« gut gesungene Darstellung, wie sie vom jungen Fritz Wunderlich (in einer Aufnahme von 1959 mit Karl Heinz Stolze am Klavier, ediert beim kroatischen CD-Label Myto Records) überliefert ist, – soll man sagen: paradoxerweise? – mehr Raum. Die Frage, was oder wer hier dumm bzw. intelligent ist, stellt sich bei diesem Liederzyklus als recht verzwickt heraus – die Kenner des Liedgesangs freilich halten sie für längst entschieden, im Sinne des Klischees vom »dummen Tenor«. So meint sogar der (anonyme) Beiheft-Autor der Wunderlich-CD kritisch, der junge Müller sei hier »still a journeyman, not yet a master«. Ein Meister wäre in dieser Optik wohl jener, der es versteht, mit einer zwingenden, einfühlenden und ausdeutenden Darstellung das Publikum in seinen Bann zu ziehen – mindestens das Publikum von Liederabenden. Für jene Menschen von heute, denen die Welt von Handwerksgesellen und Müllerstöchtern, von »Herr Meister und Frau Meisterin« eher fremd ist, dürfte eine distanziertere Darstellung jedoch einen besseren Zugang schaffen. Wenn der Sänger nicht vorgibt, selbst der Müllergeselle zu sein, sondern eine Geschichte aus alter Zeit erzählt, wird sich leichter herausstellen, was daran noch aktuell ist.
© Christoph Keller 2002