Daniel Behle & Die schöne Müllerin

Die schöne Müllerin. Eine Interpretation von Daniel Behle und Sveinung Bjelland

„Er vertraut Schubert und lässt die Musik sprechen.“ So hieß es in einer Rezension zu Daniel Behles erster – von Jürgen Kesting als „ein exquisites Debüt-Recital«“ bezeichneten – Lied-CD. Ein Merkmal seiner Interpretation, das auch sonst vielfach hervorgehoben wurde, ist, dass er den Liedern keine „Auffassung“ überstülpt, sondern dass seine Gestaltung ganz unprätentiös aus der Natürlichkeit des Vortrages erwächst. Eine Natürlichkeit, die gleichwohl Ergebnis eines reflektierten Prozesses ist, der sich teilweise über Jahre hinzieht.

Dabei könnte man fragen: Ist es überhaupt möglich, zu einem so oft aufgeführten (und  aufgenommenen) Werk wie der Schönen Müllerin noch etwas Neues hinzuzufügen? „Es geht uns nicht darum, etwas “Neues“ zu machen, sondern wir wollen der Botschaft dieser zwanzig Lieder auf die Spur kommen. Auf unserer Suche nach einer eigenständigen Interpretation sind wir deshalb auch sehr vorsichtig mit “mitteilungswürdigem Subtext“ umgegangen, um dem Charakter des Müllers jede unterschwellige Facette abzugewinnen, die sein Handeln auch heute noch verständlich macht. Dieses zurückhaltende Vorgehen gibt dem Protagonisten erst seine charakterliche Tiefe.«

Die schöne Müllerin hat ihren Ursprung in Berlin. Der Dessauer Schneidersohn Wilhelm Müller, drei Jahre älter als Schubert, hatte dort sein Philologie-Studium begonnen und später, nach einem Zwischen-spiel als Leutnant bei den Befreiungskriegen, die Hautevolee der damaligen literarischen Welt kennengelernt. Mit Achim v. Arnim, Clemens Brentano und Ludwig Tieck traf er sich regelmäßig in Salons zum Gedankenaustausch. Bei diesen Zusammenkünften hatte man sich einmal “eine Art dramatischer, aber nur durch eine Verkettung von Liedern zu lösender Aufgaben gestellt“, (Ludwig Rellstab). Das Sujet: eine junge Müllerin, die von drei Bewerbern (neben Müller und Jäger noch Gärtner) dem Waidmann ihre Neigung schenkt. Die Musik hatte Ludwig Berger komponiert, die meisten der Gedichte Müller geschrieben, dessen unglückliche Liebe zur Dichterin Luise Hensel ihm die Inspiration erleichtert haben mag.

Rund fünf Jahre später sammelte Müller - als Gymnasiallehrer in seine Heimatstadt zurückgekehrt – die Gedichte, fügte Prolog und Epilog hinzu und veröffentlichte sie in dem Band Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, offiziell bloß als “Heraus-geber“ firmierend – eine der in der Romantik beliebten Verschleierungen der Autorschaft, die hier gleichwohl nur augenzwinkernd angedeutet ist. Das Buch erschien 1820 in Dessau; in einem zweiten, 1824 erschienenen Band dieses »Nachlasses« sind die Gedichte enthalten, die Schubert als Winterreise vertonen sollte. Die schöne Müllerin (die vom Hinweis “Im Winter zu lesen“ eröffnet wird) war nun, wie der Dichter es in seinem Prolog betont, ganz auf das Schicksal des Müllers ausgerichtet:

Doch wenn ihr nach des Spiels Personen fragt,
So kann ich euch, den Musen sei’s geklagt,
Nur eine präsentiren recht und ächt,
Das ist ein junger blonder Müllersknecht.
Denn, ob der Bach zuletzt ein Wort auch spricht,
So wird ein Bach deshalb Person noch nicht.
Drum nehmt nur heut’ das Monodram vorlieb:
Wer mehr giebt, als er hat, der heißt ein Dieb.

Schon viele Jahre vorher hatte Müller seinem Tagebuch anvertraut: „Ich kann weder spielen noch singen, und wenn ich dichte, so sing’ ich doch und spiele auch. Wenn ich die Weisen von mir geben könnte, so würden meine Lieder besser gefallen, als jetzt. Aber getrost, es kann sich ja eine gleich gestimmte Seele finden, die die Weise aus den Worten heraushorcht und sie mir zurückgibt.“ Dieser Wunsch ging bald in Erfüllung: Anfang 1823 fiel Müllers Gedichtsammlung Franz Schubert in die Hände. Die Verse müssen ihn besonders bewegt haben, schließlich regten sie ihn zum ersten Liederzyklus eines solchen Umfangs überhaupt an (Beethovens Lieder-Opus An die ferne Geliebte umfasst kaum ein Viertel davon).

Schubert verzichtet auf Vor- und Nachrede, deren ironische Perspektive ihm überflüssig vorkam, und vertiefte sich in die Handlung: Ein wandernder Müllergeselle nimmt an fremdem Orte Arbeit an und verliebt sich in die Tochter des Meisters. Nach einer Weile sieht er seine Gefühle erwidert, doch das Glück währt nur kurz: Schon bald tritt ein Nebenbuhler auf den Plan und macht seine Hoffnungen zunichte; die Resignation des Unterlegenen ist ausweglos.

Dieses Geschehen inspirierte den Komponisten zu einem ganz unverwechselbaren “Müllerin“-Tonfall, einem Kosmos an überwiegend strophisch gebauten Liedern mit übergreifenden motivischen Bezügen, einer ausgefeilten Tonartenregie und einem besonderen atmosphärischen Zusammenhalt. Die feine Balance zwischen Volksliednähe und kompositorischer Raffinesse hat Schuberts Schöne Müllerin besonders populär gemacht, ganz so, wie Leopold Mozart es einst seinem Sohne ans Herz gelegt hatte: „Ich empfehle dir Bey deiner Arbeit nicht einzig und allein für das musikalische, sondern auch für das ohnmusikalische Publikum zu denken, – du weist es sind 100 ohnwissende gegen 10 wahre Kenner, – vergiss also das so genannte populare nicht, das auch die langen Ohren kitzelt.“

Auffällig an der Schönen Müllerin ist die schon erwähnte große Anzahl an Strophenliedern. Doch schon beim ersten Lied täuscht die vermeintliche Einfachheit. Der Text (in der Vertonung von Carl Friedrich Zöllner zum Volkslied geworden) ist ein Lob des Wanderns, aber Schuberts Musik ist zum Wandern gar nicht geeignet: „Richtet man bei einer musikalisch guten Wiedergabe seinen Schritt nach den Achteln des 2/4-Takts, so kommt man ins Trippeln, richtet man ihn nach den Vierteln, dann wird ein Schreiten daraus“, (Arnold Feil). Es ist kein Wanderlied, sondern ein Lied über das Wandern – und der Müller scheitert nicht an einer untreuen Geliebten, wie Daniel Behle betont, sondern an seiner Idee von Liebe an sich: „Es ist vor allem ein Kampf des Müllers mit sich selbst und seinem übersteigerten, gefährdenden Verhältnis zur Liebe.“ Bleibt die Herausforderung für den Interpreten, die gleichbleibende Musik mit einem wechselnden Text in Einklang zu bringen: „Ich habe keine Angst vor Wiederholungen. Der Text in den Strophen muss nicht interpretatorisch gedoppelt werden. Die Worte erzählen genug. Das Gewicht der Steine in der vierten Strophe muss ich nicht durch langsam-schwerfälliges Singen betonen, zumal sie ja eben doch auch hüpfen und springen und tanzen! Mit einer kleinen Verzögerung gegen Ende der Strophe wird der Charakter eines Steines, der sich zu tanzen müht, viel anschaulicher gezeigt als durch plumpes Stampfen von Anfang an.“

Dass die Gedichte aus einem Liederspiel erwachsen sind, hört Daniel Behle auch den Vertonungen Schuberts an. Für ihn ist Die schöne Müllerin wie ein kleines Kammerspiel mit verschiedenen Protagonisten: „Nur, wenn man sie als Geschichte erzählt, wird sie spannend. Ich habe Die schöne Müllerin zu Beginn meines Studiums auch einmal szenisch auf die Bühne gebracht. Das geht – aber eigentlich braucht es das nicht. Das Drama spielt sich im Kopf des Zuhörers ab.“ Nichtsdestoweniger empfindet er eine theatralische Gliederung in drei “Akte“, die die übliche Zäsur vor dem Lied Pause überwölbt: Nr. 1 (Das Wandern) bis Nr. 7 (Ungeduld), Nr. 8 (Morgengruß) bis Nr. 15 (Eifersucht und Stolz) und Nr. 16 (Die liebe Farbe) bis Nr. 20 (Des Baches Wiegenlied). Und in der Figurenkonstellation sieht er eine entscheidende Nuance: „Der Bach gewinnt immer mehr an Persönlichkeit, bis ihm die Rolle einer rivalisierenden Geliebten zuwächst. Nicht nur der Jäger konkurriert mit dem Müller um die Müllerin, der Bach konkurriert mit der Müllerin um den jungen Müllerburschen.“

Zurück zum Anfang: „Vom Naturverbundenen ausgehend, haben wir danach gesucht, wie sich diese Idylle in Richtung einer komplexeren Welt entwikkelt.“

In der Aufeinanderfolge der Lieder Nr. 6 (Der Neugierige) und Nr. 7 (Ungeduld) zeigt sich, wie durch das Herausschälen von Kontrasten, die schon in der Musik angelegt sind, die Interpretation bereichert wird: „Durch unser außergewöhnlich schnelles Tempo in Nr. 7 vermittelt sich das Herzflattern (Triolen) des Müllers viel besser – ein Eindruck, der sich nach dem betont ruhig gehaltenen vorangegangenen Lied besonders stark einstellt.“ Solche Gegensätze sind es, die Daniel Behle meint, wenn er sagt: „Kontraste muss man in der Musik finden, nicht in sie hineintragen. Man kann jedes Lied sich selbst überlassen, der Musik vertrauen: Schubert hat die richtige Balance komponiert. Wenn man diese Kontraste hörbar macht, dann vermittelt sich selbst der übersteigerte Liebesbegriff der Werther-Zeit und wird unversehens nachvollziehbar.“

Es sind die dezenten lautmalerischen Akzente, die dieser Aufnahme ihren persönlichen Stempel aufdrücken – wie zum Beispiel in Nr. 12 (Pause), wo der Pianist an der Stelle “Ist es der Nachklang meiner Liebespein?“ das des in der rechten Hand als einzelne Note überhängen lässt und so den “Nachklang“ hörbar versinnbildlicht. Das Lied Nr. 14 (Der Jäger) „gehen wir im Tempo ans Limit, bis an die Grenzen der Textverständlichkeit – da rühren wir an der Ein-Minuten-Marke. Der Müller schreit in voller Erregung seinen Ärger in die Welt und schickt in seiner Aufgebrachtheit gleich die Nr. 15 (Eifersucht und Stolz) hinterher. Nach der ersten Vorahnung des Todes in Nr. 10 (Tränenregen), wo das In-die-Tiefe-gezogen-Werden aber eher noch den Charakter einer Verführung, einer leichten Eifersucht zwischen Bach und Müllerin hat, wird in Nr. 16 (Die liebe Farbe) erstmals das Grab erwähnt: Die Verzweiflung des Müllers manifestiert sich im Gedanken an den Selbstmord. Im nächsten Lied (Die böse Farbe) bricht sich die Aussichtslosigkeit des unglücklich Liebenden Bahn, bevor in Nr. 18 (Trockne Blumen) der Weg zurück in die Natur eingeschlagen wird: Der Tod wird nun als Erlösung angesehen, daher der jubelnde Schluss. Im letzten Lied (Nr. 20, Des Baches Wiegenlied) waren wir besonders darauf bedacht, diese kostbare Miniatur nicht aufzuplustern. Es ist kein durchkomponiertes Lied, sondern ein Strophenlied, und diese schlichte Form gilt es zu respektieren. Mit dem Wiegenlied schließt sich der Bogen zum Anfang: Beides sind Strophenlieder mit jeweils fünf Strophen, einst sang der Müller, nun singt der Bach, es begann mit dem Wandern ins Leben hinein, nun schließt es mit dem Fließen aus dem Leben heraus. Hinweg vom Mühlensteg! Etwas von der Eifersucht ist immer noch da. Der Bach ist nicht nur Tröster, er hat sich auch etwas genommen.“

Mit dem Wiegenlied des Baches ist zwar Die schöne Müllerin, aber noch nicht diese Aufnahme zu Ende. „Bei Aufführungen wiederholen wir gelegentlich das erste Lied als Zugabe. Da schließt sich der Kreis – das Leben gewissermaßen als ewige Wanderschaft. In dieser Einspielung haben wir einen Epilog hinzugefügt, den wir im Konzert nur selten geben können, weil dazu ein Hornist benötigt wird: Auf dem Strom. Es hat uns gereizt, den Kreislauf des Lebens, der in der Müllerin angelegt ist, noch ein wenig weiterzuverfolgen.“ Dieses Lied – ein Seitenstück zu Der Hirt auf dem Felsen mit seiner Klarinettenstimme – komponierte Franz Schubert für ein von ihm selbst veranstaltetes Konzert aus Anlass von Beethovens erstem Todestag am 26. März 1828; ein “Lewy der Jüngere“ genannter Musiker (möglicherweise Josef Rudolf Lewy, der als einer der ersten das neuerfundene Ventilhorn einsetzte) spielte das Waldhorn. „Es kommt mir vor, als würde in Rellstabs Text das Ende des Müllers ins Jenseits hinausgezogen: post mortem kommt der Wandernde noch einmal zu Wort.

Sein Weg nach dem Tod wird nachgezeichnet, vom Ufer des Flusses über den Strom bis zur Mündung und weit ins Meer hinaus. Das Instrument des Jägers, das Horn, erklingt nun realiter, als Verklanglichung des Rivalen auf Erden, einst verhasst, nun versöhnt im Angesicht der Ewigkeit.“

Eine Einspielung ist eine Bestandsaufnahme, keine Festlegung. „Ich singe diesen Zyklus seit etwa zehn Jahren. In dieser Zeit ist meine Interpretation gewachsen. Bei den Vorbereitungen für diese Aufnahme haben wir unserer Interpretation noch einmal von Grund auf geprüft. Aber das meiste, was wir mit der Zeit erarbeitet hatten, hat sich für uns als stimmig bestätigt.“ Das heißt nicht, dass Daniel Behles Auffassung für ihn nun für alle Zeiten fixiert ist. Sie wird sich ändern wie er sich selbst. Aber immer wird für ihn gültig sein: „Ich will glauben können, was ich singe.“

© Malte Krasting

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